Der Mitternachtsexpress

„Der Zug hält hier um Mitternacht!“
Simeon hielt den Zettel in der Hand, den er am Morgen an der Tür klebend vorgefunden hatte, und las ihn erneut durch. Es stand kein Absender darunter. Er blickte auf die von der Zeit überwucherten Bahngleise, die sich an seinem Haus vorbeischlängelten. Sie waren seit Jahren stillgelegt.
Er steckte das Stück Papier in seine Jacke und vergaß es über den Tag. Seine Gedanken waren bei dem Bau einer neuen Brücke über den Fluss Arda. Ein schwieriges Projekt, da Umweltschützer durch Anträge beim Gericht den Bau immer wieder verzögerten. Heute war eine erneute Anhörung.
Als er am Abend zu seinem Haus zurückkehrte, schloss Simeon wütend seine Tür auf. Wieder hatte das Gericht gegen ihn entschieden. Der Bau lag für drei weitere Monate still. Was scherten ihn irgendwelche Brutzeiten? Brücken vereinigten, was ansonsten getrennt bleiben musste. Die Brücken von Arkadiko in der griechischen Antike waren das älteste Beispiel dafür. Verbanden sie einst die mykenischen Zentren mit der Küste und sorgten für den Transport von Gütern und Truppen.
Als Simeon die Tür aufriss, wirbelten schwarze Federn hoch.
„Dumme Viecher“, knurrte er und trat verächtlich auf das Gefieder.
Lange hielt ihn der Ärger wach, bis er schließlich über den Plänen seiner Brücke einschlief.
Dunkles Glockengeläut weckte ihn. Zwölf Schläge, die durch die Nacht dröhnten, aber nicht sein konnten, da keine Kirche in der Nähe seines Hauses stand. Es schmiegte sich an den Rand des Waldes, weit außerhalb der Stadt.
„Seltsam“, murmelte Simeon. „Wer zum Teufel macht da draußen solch einen Krach?“
Suchend spähte er aus dem Fenster. Die Nacht lag finster über dem Wald. Kein Zweig rührte sich, kein Tier lief über die Wiesen. Alles war still.
Dann in der Ferne ein Licht, ein winziger Punkt, der im Takt seines Pulsschlages stärker und schwächer wurde. Ein Pfeifen wie von einem Teekessel zerriss die trügerische Ruhe. Was war dort in der Dunkelheit?
Neugierde, gepaart mit einem fröstelnden Grauen, trieb ihn nach draußen vor die Tür. Was immer dort war, Simeon wollte es wissen.
Der Boden unter seinen Füßen war ganz weich und als er hinab sah, gewahrte er einen Teppich aus Federn, der alles bedeckte. Wieder ertönte ein schrilles Pfeifen. Das einzelne Licht wandelte sich zu drei Augen, die im Dreieck zueinander standen und einen hellen Schein durch die Finsternis warfen. Schnaubend stampften Kolben, trieben Stahlräder über alte Schienen. Ein Zug hielt auf ihn zu, ächzte sich mühsam durch den Wald und blieb schließlich an seinem Haus stehen. Dampf wallte auf, vernebelte für einen Moment die Szenerie.
„Einsteigen, bitte!“
Ein Schaffner im nachtblauen Anzug schaute in seine Richtung. Die linke Hand lag auf einer roten Tasche an seiner Seite, in der anderen hielt er eine Signalkelle. Schneeweiß wie Alabaster schimmerte sein Gesicht im Mondlicht. Die hohen Wagenknochen schienen aus Marmor gemeißelt zu sein und kein Schwan konnte sich mit der Anmut seiner Haltung messen.
Lächelnd ging Simeon auf ihn zu, verzaubert von diesem Antlitz. Das war so unglaublich, er musste träumen. Anders konnte er es sich nicht erklären. Zu viele Nächte ohne Schlaf, von Sorgen gequält. Diese Nacht schien ihm nun einen höchst seltsamen Traum zu schenken.
Er kletterte die hohen Stufen ins Abteil hinauf. Drinnen war es kalt und dunkel. Sein Atem blies weiße Wolken in den Raum. Er stolperte nach vorne, als der Zug mit einem Ruck anfuhr, und fiel hin. Selbst der Boden war eiskalt. Schaudernd stand er auf und blickte sich im leeren Waggon um. Holzbänke überall. Kein Zeichen von Leben. In einem der Gepäckkörbe lag eine Decke. Er nahm sie herunter und umschlang seinen zitternden Körper. Das Ruckeln des Zuges ließ ihn müde werden, so sank er schon bald auf eine der Bänke und schloss für einen Moment die Augen.
„Fahrkarte, bitte!“
Die Stimme des Schaffners riss ihn aus seiner Schläfrigkeit. Die Kuppellampe flackerte in der Mitte der Decke. Ihm gegenüber saß eine verhärmte Frau mit ihrem kleinen Sohn. Tief eingesunken und von Schatten umspielt lagen ihre Augen in den bleichen Gesichtern. Sie trug einen grauen Mantel mit großem Schalkragen, ihr Kind einen Matrosenanzug – ebenfalls grau. Langsam kramte sie in ihrer Tasche, zog ein rußiges Stück Papier hervor, das sie dem Schaffner zeigte. Dieser nahm es und stanzte ein Kreuz hinein.
„Fahrkarte, bitte!“
Der Schaffner hielt ihm auffordernd die Hand hin. Eine Feder fiel aus seinem Ärmel.
„Fahrkarte?“, murmelte Simeon. „Ich habe keine.“
„Keine Fahrkarte?“
Ein Raunen durchlief das Abteil. Blasse Gesichter wandten sich ihm zu. Alle Plätze auf den Holzbänken waren mittlerweile gefüllt.
„Einen Fahrschein hatte der Letzte auch nicht.“
„Schlimm, schlimm war das …“
Alle Passagiere nickten nun schweigend und schauten bedauernd in seine Richtung. Der Schaffner beugte sich zu ihm hin und seine langen, schmalen Finger gruben sich in Simeons Arm. Frostige Kälte durchzog seinen ganzen Körper, schmerzte unerträglich in den Gliedern.
„Wartet!“, schrie er mit klappernden Zähnen, „Nein!“
Das Gesicht des Schaffners schwebte über ihm und seine zarten Lippen öffneten sich.
„Fahrkarte, bitte!“
Simeon durchforstete seine Taschen in der Hoffnung, etwas zu finden, was er vorzeigen könnte. Ein Stück Papier knisterte zwischen seinen Fingern. Er zog es aus der Tasche. Es war die Nachricht vom Morgen.
Der Schaffner stanzte ein Kreuz hinein.
„Dieser Fahrschein ist nicht bis zum Ende gültig. Bitte denken Sie daran, vorher auszusteigen!“
Die Gesichter, die so gespannt in seine Richtung geblickt hatten, wandten sich wieder desinteressiert ab.
„Bald kommt die Brücke“, sprach ein Greis, der auf seinen Stock gestützt aus dem Fenster stierte.
„Die Brücke, ach, die Brücke …“, seufzten alle und starrten schweigend auf den Boden.
„Das Wasser im Fluss ist grimmig“, erzählte ihm schließlich die Frau gegenüber. „Tagelang hat es geregnet und so hält ihn nichts mehr in seinem Bett.“
„Und denkt an die Winde“, sprach der Junge neben seiner Mutter. „Wütend sind sie heute Nacht.“
„Da“, rief der Greis. „Ich sehe in der Ferne schon das Wasser schimmern.“
„Mir ist so kalt“, wimmerte der Junge. „So kalt!“
„Still, mein Sohn.“ Sie legte beruhigend ihren Arm um seine Schultern.
„Bald ist es vorbei!“
Der Schaffner zog seine Jacke aus. Schwarze Federn wirbelten durch den Raum. Flügel, die eingeengt unter der Jacke gelegen hatten, entfalteten sich, bedeckten das Licht der Lampe und warfen einen langen Schatten auf die Fahrgäste. Die Menschen duckten sich unter den Blicken des Schwarzen Engels, jammerten und stöhnten leise.
Die Räder ratterten unaufhörlich über die Gleise und die Kolben stampften lauter.
„Nächster Halt: Am Abgrund!“, verkündete der Engel und lächelte leer auf seine Passagiere herab.
Simeons Magen krampfte sich zusammen. Das hier war mehr als ein Traum, dämmerte es ihm nach und nach. Schweiß, der auf seiner Stirn perlte, gefror in der kalten Luft.
„Die Brücke“, kreischte der Greis. „Die Brücke kommt!“ Er schlug mit seinem Stock auf den Boden und wandte sich zu Simeon um.
„Noch ist Zeit!“, brüllte er ihn an. „Beeile dich!“
Wo fuhr der Zug nur hin, grübelte Simeon fieberhaft. Hier ist keine Brücke. Und doch sah er in der Ferne, wie sich hölzerne Bögen über das Wasser spannten. Wer hatte sie dort erbaut?
Der Junge zupfte an seinem Ärmel.
„Es ist soweit!“
Simeon sprang auf und lief zu dem Schwarzen Engel.
„Ich will aussteigen“, flehte er ihn an. „Bitte!“
Haare, die wie Onyx glänzten, fielen in das schmale Gesicht des Engels, als dieser den Kopf schüttelte.
„Ich kann diesen Zug nicht anhalten.“
Simeon stürzte zum Ende des Waggons und riss die Tür auf. Der Boden raste an ihm vorbei, so dass ein Absprung unmöglich war. Der Zug fuhr zu schnell.
Er schwankte, fiel in das Abteil zurück und lag keuchend auf dem Boden. Sein Blick wanderte rastlos an den Wänden entlang und blieb an einem roten Hebel hängen. Sofort schnellte Simeon vom Boden hoch und zog an der Notbremse.
Räder blockierten und ein heftiger Ruck durchschüttelte den Zug.
„Wir dürfen nicht halten“, schrieen alle auf. „Wir kommen sonst zu spät!“
„Ich kümmere mich darum“, beruhigte sie der Engel mit sanfter Stimme und ehe er Richtung Lok verschwand, warf er Simeon einen letzten Blick zu. Lockende Versuchung glühte in den schattigen Augen. Nur mühsam löste er sich von dem flammenden Blicken und eilte zur Tür.
Dort zögerte er kurz, weil der Zug noch immer nicht stand. Als er merkte, dass die Bremsen sich lösten und die Lok schnaufend wieder Fahrt aufnahm, sprang er. Sein Körper schlug auf Kieselsteinen auf, rollte durch Gebüsche und blieb schließlich liegen. Mühsam schnappte er nach Luft.
Er blickte dem Zug hinterher, der sich über die Brücke schlängelte. Ein lautes Krachen donnerte über den Fluss. Holz splitterte, brach, knickte in sich zusammen. Langsam fiel die Brücke und mit ihr der Zug. Bis es dunkel und still war. Nur das Wasser rauschte noch im Tal.

Seitenanfang