Die ewige Idee
Man kann die Uhr anhalten,
aber niemals die Zeit.
(aus Spanien)
Peter wollte nicht alt werden. Zu sehr hatte sich das Bild des
dahinsiechenden Vaters in seinem Gedächtnis eingebrannt. Der
einst so starke Mann, zu dem er stets bewundernd aufgeblickt hatte, war
mit der Zeit buckelig geworden. Glaubte er früher einen Baum
zu umfassen, wenn er ihn umarmte, so knackten nun die Knochen seines
Vaters bei jeder Umarmung und er fürchtete, er würde
ihn zerbrechen. Die Angst davor wurde so groß, dass er
schließlich jede Umarmungen unterließ. Nur
vorsichtig tätschelte er die alterfleckige Hand des Greises.
Bis er entdeckte, dass die Haut knisterte wie Pergament. Da
unterließ er auch das, weil er glaubte, dass sie
reißen könnte.
Zusammengekauert saß der Vater nur noch in seinem Ledersessel
und bewegte sich kaum. Die brüchigen Knochen und schwachen
Muskeln wollten nicht mehr. Peter sah ohnmächtig zu, wie der
alte Mann Tag um Tag weiter verfiel. Als der Vater starb,
fühlte Peter sich befreit.
Doch Wochen später fing er an zu träumen.
Zunächst von seinem Vater. Bei jedem weiteren Traum wurde das
Gesicht des Vaters durch seins ersetzt und er wachte schreiend auf.
Noch minutenlang hörte er das Knacken und Knistern von Knochen
und Haut. Bis der Atem langsamer wurde und er sich von der
Elastizität seines Körpers überzeugt hatte.
Peter begann, das Wesen der Zeit zu studieren. Er lernte, dass Zeit
individuell ist, abhängig von Bewegung und Gravitation. Sie
war die vierte Dimension, die erst den Raum in seiner Länge,
Breite und Höhe möglich und erfahrbar machte.
Vertieft in die Einsteinsche Relativitätstheorie, sah er den
Raum vor sich gekrümmt. Und da kam ihm eine Idee.
Als nächstes befasste er sich mit dem Uhrmacherhandwerk. Denn
die Uhr war das mächtigste Symbol für die
Vergänglichkeit. Sie wies mit ihren Zeigern auf den Fluss der
Zeit, der so unabänderlich durch sein Leben rauschte. Er
fühlte, wie die Fluten ihn unterspülten.
Schließlich war Peter so weit. Er kaufte Rädchen aus
feuervergoldetem Messing, Federn aus Stahl, kleine Goldplatten,
Schrauben und entsprechende Werkzeuge. Wochenlang schloss er sich in
seiner Wohnung ein. Hämmerte, sägte, feilte und
schraubte fleißig. Die Nachbarn hielten ihn für
verrückt und redeten im Hausflur über den
wunderlichen Peter, der nach dem Tod seines Vaters den Verstand
verloren hatte. Die Frau in der Etage unter ihm rief
schließlich die Polizei, als es nach tagelangem Rumoren in
Peters Wohnung plötzlich verdächtig still war.
Die Polizei schellte und Peter öffnete ihnen lächelnd
die Tür. Höflich bat er sie herein, bot ihnen sogar
eine Tasse Tee an. Die beiden Beamten schauten sich um, konnten jedoch
nichts Verdächtiges finden. Die Zimmer waren
aufgeräumt, das Bett gemacht und der Tisch mit Teegeschirr
gedeckt. Lediglich ein seltsames Instrument hing an Peters Handgelenk.
Es tickte leise wie eine Uhr und doch hatte es keine Zeiger.
„Was ist das?“, fragte ihn einer der Polizisten und
wies auf das Gerät.
„Ein Aetasincurvator. Ich habe ihn selbst gebaut“,
erzählte Peter stolz.
„Für eine Uhr sieht das aber ungewöhnlich
aus.“
„Das ist auch keine Uhr. Es ist, wie ich schon sagte, ein
Aetasincurvator. Ich messe nicht die Zeit, ich krümme
sie“, entgegnete Peter.
„Ach so …“, murmelte der Polizist und
schaute seinen Kollegen augenrollend an.
„Nein, meine Herren, ich bin nicht verrückt. Ich
habe mich nur entschlossen, gegen den Strom zu rudern. Wenn es weiter
nichts gibt, so bitte ich Sie, mich in Ruhe zu lassen. Die Feder hat
noch nicht die richtige Spannung. Ich muss sie nachziehen.“
So komplimentierte er die Polizisten freundlich hinaus, die mit einem
Male verdutzt vor der verschlossenen Tür standen. Da sie
nichts gefunden hatten, was nach einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit
aussah, verließen sie das Haus.
Die Nachbarn vergaßen Peter und niemand fragte mehr nach der
stillen Wohnung in ihrem Haus. Die Miete war auf Jahre im Voraus
bezahlt worden und da niemand durch Lärm oder Gestank
belästigt wurde, interessierte es auch keinen mehr, ob es
Peter noch gut ging oder er überhaupt lebte. Am Ende dachte
jeder, die Tür würde zu einer Abstellkammer auf dem
Dachboden führen.
Die Enkeltochter jener Frau, die damals die Polizei gerufen hatte,
rüttelte eines Tages an dem Türknauf und das Kind
hielt erschrocken den Atem an, als die Tür sich knarrend
öffnete. Sie war nie verschlossen gewesen. Nur hatte es keiner
je überprüft.
Neugierig drückte sie die Tür ganz auf und
schlüpfte in die Wohnung. In der Diele hing ein schwarzer
Wollmantel, auf der Ablage darüber thronte ein Hut. Ein Schirm
lehnte an der Wand. In der Küche dampfte eine Teekanne neben
dem Herd, der ausgeschaltet war. Im Wohnzimmer stand Teegeschirr auf
dem Tisch, Plätzchen lagen in einer Kristallschale bereit. Der
Sessel war zum Fenster gewandt, eine Hand ruhte auf der Armlehne.
„Wer ist da?“, flüsterte eine
brüchige Stimme.
„Es tut mir leid“, rief das Mädchen
ängstlich. „Ich wollte nicht
stören.“
Schon war sie bereit, sich umzudrehen und Reißaus zu nehmen
vor dem unbekannten Mann.
Die von der Zeit fleckig und faltig gewordene Hand winkte ihr zu,
näher zu kommen.
Vorsichtig trippelte sie zu dem Sessel und blickte in ein Gesicht, das
von weißen Haaren umrahmt war. Spitz waren die
Gesichtszüge, die Haut hing locker über den Knochen,
rollte sich an der Stirn zu Falten zusammen. Die von Schatten umrahmten
Augen blickten traurig auf das Kind herab.
„Wer bist du, meine Kleine?“
„Ich bin Eva.“
„Also Eva“, murmelte er. „Wie
biblisch!“ Der alte Mann lachte leise.
„Und wer sind deine Eltern?“
„Thomas und Maria Zimmermann“, antwortete die
Kleine prompt, die langsam Vertrauen zu dem alten Mann fasste, der ihr
ganz harmlos erschien.
Ein Husten schüttelte seinen Körper.
„Möchtest du etwas trinken? Ich habe eine Teekanne
in der Küche gesehen.“
„Das ist lieb von dir, meine Kleine. Aber ich
fürchte, die Zeit habe ich nicht mehr.“
Er schwieg kurz, zog dabei die Falten auf seiner Stirn nachdenklich
zusammen.
„Thomas Zimmermann, der Sohn von Inga Zimmermann?“,
fragte er nach.
„Ja“, nickte Eva eifrig. „Inga ist meine
Oma!“
„Herrgott“, rief er da und erblasste.
„Und wer bist du?“, fragte sie zaghaft.
Schweigend starrte er sie an, bevor ein weiterer Hustenanfall ihn
schüttelte.
„Peter Jung“, erwiderte er schließlich.
„Ach, der Verrückte, der verschwunden ist? Sie
erzählen sich das hier manchmal im Haus. Aber
verrückt schaust du gar nicht aus. Und meine Oma hat immer
geschimpft, wenn sie so über dich geredet haben. Ich glaube,
sie mochte dich.“
Ein Lächeln umspielte Peters Lippen.
„Die Inga … so, so. Wenn ich es mir recht
überlege, mochte ich sie auch.“
Eva klatschte kichernd in ihre kleinen Hände.
„Ach, wenn ihr euch verliebt hättet, dann
wärst du jetzt mein Opa!“
Ein Schatten glitt über Peters Miene.
„Ja, das wäre eine Möglichkeit gewesen.
Eine von vielen, die ich nicht kennen lernen konnte. Ich dummer
Narr!“
Wütend zerrte er an dem Aetasincurvator, der um sein
Handgelenk hing, und riss ihn herunter.
„Was ist das?“ Eva zeigte auf das golden
schimmernde Gerät in seiner Hand.
„Ein Fluch ist das, kleine Eva. Ein Betrüger. Die
Zeit wollte ich überlisten und bin nun selber der Genarrte.
Ans Ende der Zeit hat es mich verschlagen und so habe ich mich selber
beraubt.“
Peter winkte sie näher zu sich heran und drückte ihr
das Gerät in die Hand.
„Vernichte es, Eva. Hörst du? Wirf es aus dem
Fenster, dass es auf dem Boden zerschellt. Und die Einzelteile
versenkst du im Fluss.“
Fest umschlossen seine Hände ihre zarten Finger, so dass das
kühle Metall ihr ins Fleisch drückte. Dabei schaute
er sie beschwörend an und ließ erst los, als Eva
nickte.
Seufzend lehnte er sich zurück, schloss die Augen und atmete
ein letztes Mal tief durch. Dann rührte er sich nicht mehr.
Eva ging drei Schritt zum Fenster, hielt inne und drehte sich noch
einmal zu ihm um. Peter lag friedlich wie im Schlaf in seinem Sessel,
den Kopf nach vorne gekippt.
Sie betastete das seltsame Gerät, fühlte Gravur und
Kerben nach, hielt es ins Licht, das durch das Fenster fiel. Es
glitzerte so wunderbar. Schließlich legte sie es sich ums
Handgelenk. Sie wollte nur einmal schauen, wie es ihr stand.